«Das Problem ist nicht unlösbar»

0%
5 Minuten
03.12.2025

Wie erhält die Schweiz sicheren, bezahlbaren und nachhaltig produzierten Strom? Martin Schwab, Präsident des VSE, plädiert für eine volkswirtschaftliche Gesamtsicht – und sieht bei gewissen politischen Kreisen einen Verlust des Realitätssinns.

Martin Schwab, die Schweiz baut ihr Energiesystem um. Was läuft gut?

Die Dekarbonisierung verläuft insgesamt erfreulich. Wir ersetzen zunehmend fossile Energieträger durch Strom aus erneuerbaren Quellen. Aber der Zubau neuer Kapazitäten bleibt unzureichend – vor allem, wenn es um die Winterstromproduktion geht.

War das schon alles, was gut oder zumindest nicht schlecht läuft?

Wir profitieren heute von den Investitionen der letzten 120 Jahre, versäumen es aber, für kommende Generationen eine zukunftsfähige Infrastruktur aufzubauen. Das beschäftigt mich sowohl als Präsident des VSE als auch als Staatsbürger.

«Wenn wir so weitermachen, gefährden wir unseren hart erarbeiteten Wohlstand.»

Martin Schwab

Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Ich schätze unser politisches System sehr – Subsidiarität und direkte Demokratie zählen zu den grossen Stärken der Schweiz. Aber genau diese Stärken erschweren schnelle Entscheidungen beim Infrastrukturausbau.

Sie sprechen die Bewilligungsverfahren an, die Interessengruppen nutzen, um ihre legitime Sichtweise einzubringen?

Ja. Frühere Generationen haben in der Schweiz die grossen Wasserkraftwerke und auch Kernkraftwerke gebaut. Sie wussten, dass sie Strom brauchen. Heute nehme ich, verzeihen Sie die Offenheit, eine gewisse Wohlstandsverwahrlosung wahr, in anderen Worten einen Verlust des Realitätssinns durch unseren Wohlstand. Wir geniessen die sichere Stromversorgung – doch sobald neue Infrastruktur konkret wird, heisst es: «Nicht bei uns.» Wenn wir so weitermachen, gefährden wir unseren hart erarbeiteten Wohlstand. Deshalb habe ich bei Ihrer Einstiegsfrage etwas gezögert.


Martin Schwab (59)

ist seit Mai 2024 Präsident des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Der Berner ist Betriebswirtschafter und Experte in Rechnungslegung und Controlling. Er amtet seit über sieben Jahren als CEO der CKW AG.


Die technologischen Voraussetzungen, um die Stromproduktion in der Schweiz zu sichern, sind vorhanden.

Absolut, das ist sehr positiv. Die Herausforderungen liegen vielmehr in der Vielzahl divergierender Interessen.

Auch beim Stromabkommen mit der EU spielt Politik eine zentrale Rolle. Warum ist ein Abkommen aus Sicht des VSE so wichtig?

Ein Abkommen mit der EU ist aus mehreren Gründen essenziell. Es verbessert unsere Integration in den europäischen Strommarkt und erleichtert den grenzüberschreitenden Stromhandel. Technisch wäre die Schweiz wieder vollständig in die europäischen Abstimmungsprozesse eingebunden. Swissgrid, unsere Übertragungsnetzbetreiberin, gerät zunehmend unter Druck, weil wichtige europäische Koordinationsgremien ohne Schweizer Beteiligung agieren. Ein Stromabkommen würde sowohl die Versorgung stabilisieren als auch die Preise senken.

Kritikerinnen und Kritiker befürchten Nachteile für kleinere Energieversorger, einen Verlust an Autonomie und Arbeitsplätzen. Und ob die Preise sinken, sei umstritten.

Diese Befürchtungen teile ich nicht. In Deutschland wurde der Strommarkt bereits vor über 20 Jahren liberalisiert. Natürlich kam es zu einigen Zusammenschlüssen. Aber die Vorstellung, dass Marktöffnung zu höheren Preisen führt, ist nicht haltbar. Wettbewerb hat vielmehr das Potenzial, die Preise zu senken.

2024 lag der Anteil an Solarstrom im Sommer erstmals über zehn, stellenweise gar über zwanzig Prozent*. Gleichzeitig wissen wir: Im Winter produzieren PV-Anlagen deutlich weniger Strom. Wie lösen wir dieses Dilemma?

Wir müssen einen Schritt zurücktreten und uns auf das Ziel verständigen: eine sichere, nachhaltige und bezahlbare Stromversorgung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines volkswirtschaftlich sinnvollen Produktionsmixes. Ein unbeschränkter Ausbau von Solar ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Das zeigt sich teilweise schon heute daran, dass der Markt allein im ersten Halbjahr 2025 total 237 Stunden mit negativen Strompreisen verzeichnete – ein klares Zeichen für Überkapazitäten zur falschen Zeit.

Also besser keine Solaranlage bauen?

Doch, unbedingt – insbesondere im Winter ist jede Kilowattstunde willkommen. Aber ein unkontrolliert subventionierter Ausbau führt zu mehr Kosten für das Gesamtsystem, ohne die Versorgungssicherheit wirklich zu verbessern.

Wenn ich Ihre Aussage richtig deute, wird im Sommer künftig zu viel Solarstrom produziert – Strom, den man gar nicht nutzen kann.

Ja. Solarstromproduzentinnen und -produzenten sollten davon ausgehen, dass sie den im Sommer produzierten Strom nicht mehr immer ins Netz einspeisen können. Erstens, weil es den Strom schlicht nicht braucht zu dem Zeitpunkt. Zweitens, weil ihn das Stromnetz auch nicht aufnehmen kann. Deshalb ist es entscheidend, dass Betreiberinnen und Betreiber von PV-Anlagen ihren Strom möglichst selbst verbrauchen – etwa, indem sie das Wasser im Boiler über Mittag erhitzen. Oder indem sie Batteriespeicher nutzen, damit sie den tagsüber gewonnenen Strom am Abend und in der Nacht nutzen können. Energieversorger sollten darüber hinaus zum Beispiel den Solarstrom im Winter höher vergüten als im Sommer, um Anreize zu setzen. Sinnvoll ist auch, dynamische Preise anzubieten. Letztlich ist eine Vergütung zu reinen Marktpreisen volkswirtschaftlich am sinnvollsten.

Das löst die Winterproblematik nicht.

Richtig. Wir diskutieren in der Schweiz zu oft ideologisch über einzelne Technologien. Windkraft wird entweder glorifiziert oder vehement abgelehnt, das Gleiche gilt für Gaskombikraftwerke und die Kernenergie. Dabei müssten wir zuerst das Trilemma aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Nachhaltigkeit lösen – daraus ergibt sich, welche Technologie für welchen Einsatzbereich sinnvoll ist. Gerade Windkraft wäre ideal, da sie im Winter deutlich mehr Strom liefert; leider gibt es aber oft lokalen Widerstand gegen Windkraftanlagen.

In wenigen Jahren verschärft sich die Lage, wenn weitere Kernkraftwerke vom Netz gehen. Sollen sie länger am Netz bleiben, braucht es neue KKWs?

Wenn es die Sicherheit zulässt, kann man die Kernkraftwerke länger betreiben. Die bestehenden Kernkraftwerke liefern Grundlast, besonders im Winter. Ihr Wegfall lässt sich nicht allein mit Solarstrom kompensieren. Wenn der Windkraftausbau stagniert, müssen wir andere Technologien ins Auge fassen – etwa Gaskombikraftwerke, idealerweise betrieben mit Biogas. Und wir werden allenfalls in Zukunft auch über neue Kernkraftwerke sprechen müssen.

Sie plädieren für «Technologieoffenheit». Was meinen Sie damit?

Jede Technologie hat Vor- und Nachteile. Es geht mir darum, die beste volkswirtschaftliche Lösung zu finden. Wenn wir eine sichere, nachhaltige und bezahlbare Energie wollen, dürfen wir keine Technologie von vornherein ausschliessen.

Wir haben nun viel über Herausforderungen gesprochen. Es geht letztlich um die Zukunft unseres Planeten. Der Druck ist hoch – auch auf Sie. Wie gehen Sie damit um?

Das Problem ist nicht unlösbar. Die Technologien sind da. Wir müssen einfach kluge Entscheidungen treffen – und sie konsequent umsetzen. Mir macht es Freude, Verantwortung zu übernehmen und meinen Beitrag zu leisten. Ich kann helfen, die Energiezukunft der Schweiz mitzugestalten – und das tue ich gerne.

Autor*in Michael Frischkopf, Fotos: Fabio Baranzini
War dieser Artikel nützlich für Sie?

You've upvoted this article.

You've downvoted this article.