Kaltstart: Strom im Winter
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12.12.2023

Mit der bisher nur zögerlich umgesetzten Energiewende verschärft sich das Szenario einer Strommangellage in der kalten Jahreszeit. Mehr alpiner Solarstrom, mehr Windkraft, mehr Speicher auf Wasserstoffbasis – diese Lösungen müssen jetzt greifen.

Es ist im Grunde eine doppelte Energiewende, der sich die Schweiz verschrieben hat: Einerseits gilt es, rund ein Drittel Atomstrom im Gesamtmix zu ersetzen, andererseits soll das Netto-null-Ziel beim Treibhausgasausstoss bis 2050 erreicht werden. Da die Atomkraft in der Schweiz ein Auslaufmodell ist und die Wasserkraft sich nur noch punktuell ausbauen lässt, droht der Strom künftig knapp zu werden. Besonders im Winter produziert die Schweiz schlicht zu wenig erneuerbaren Strom – ein hausgemachtes Problem: Die Windkraft hat es hierzulande seit jeher schwer, sich gegen die Phalanx der Landschaftsschützer durchzusetzen. Und selbst die boomende Solarenergie ist noch weit davon entfernt, ihr wirkliches Potenzial zu entfalten.

Stromdefizit Schweiz

Das Dilemma ist nicht wirklich neu: Bereits 2016 und 2017 musste die Schweiz unter dem Strich mehr
Strom aus dem Ausland importieren, als sie verkaufen konnte. Die staatliche Regulierungsbehörde ElCom verzeichnete in den vergangenen zehn Wintern ein durchschnittliches Stromdefizit von 4 Terawattstunden (TWh). Dies entspricht dem Jahresverbrauch von knapp 1 Mio. typischer Haushalte.

Eine Studie der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) bringt die Herkulesaufgabe der Schweiz auf den Punkt: Erstens soll die Energielieferung der Kernkraftwerke (heute knapp 23 TWh) grösstenteils durch jene aus Photovoltaik ersetzt werden (heute 3,9 TWh). Zwar liegt das Gesamtpotenzial der Solarenergie gemäss dem Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) bei rund 82 TWh; der Ausbau erfolgt jedoch viel zu schleppend, um mit der Verbrauchsentwicklung Schritt zu halten. Zweitens verabschiedet sich die Schweiz von den fossilen Energien. Doch wenn immer mehr elektrische Wärmepumpen die Ölheizungen ablösen und Elektroautos die Benziner ersetzen, steigt auch der Stromverbrauch – gerade in der kalten Jahreszeit, in der die Produktion ohnehin ihren Tiefstand erreicht.

Stromimport-Strategie wackelt

Auch andere Staaten Europas streben ihre individuellen Energiewenden an und sehen sich im Transformationsprozess mit teils ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Ob die Schweiz somit ihren fehlenden Winterstrom einfach wie bisher importieren kann, erscheint zunehmend fraglich. Erschwerend kommt hinzu, dass ein mögliches Stromabkommen mit der EU seit 2018 auf Eis liegt. Und der Abbruch der Beratungen über ein institutionelles Rahmenabkommen im Mai 2021 macht die Situation auch nicht besser.

Neue Lösungen müssen her

Was also ist zu tun? Zwar bemüht sich die Schweiz um die Realisierung smarter Stromnetze mit intelligentem Lastmanagement, um Winterreserven in den Stauseen und die Installation von Grossbatterien. Das reicht jedoch bei weitem nicht aus. An einer massiven Erhöhung der erneuerbaren Stromproduktion und dem Ausbau der Speicherkapazitäten führt kein Weg vorbei. Denn laut VSE gilt es, bis 2050 ein jährliches Defizit von 37 bis 47 TWh zu decken. Die entscheidende Frage lautet, wie schnell und in welchem Umfang zukunftsfähige Technologien wie alpine Solaranlagen, Windkraftwerke und Wasserstoff vorankommen.

Beispiele mit Vorbildcharakter

Gondosolar – 16 Mio. kWh hochalpiner PV-Strom
Solarparks in den Bergen produzieren etwa drei bis fünf Mal so viel Strom wivergleichbare Anlagen im Mittelland – rund die Hälfte davon in den Wintermonaten, weil sie oft über der Nebelgrenze liegen und vom reflektierenden Schnee profitieren. Und der Ansturm auf alpine Standorte ist gross: 36 Projekte sind landesweit in der Pipeline. Vorzeigeobjekt ist die über 100 000 m2 grosse Anlage Gondosolar, die auf 2000 m ü. M. an der Südseite des Simplonpasses entstehen soll. Initiant Renato Jordan sagt: «Am Anfang wurde ich mit meiner Idee nicht einmal ernst genommen.»


Freienbach SZ – 1200 Tonnen grüner Wasserstoff pro Jahr
Wasserstoff wird zu einer immer wichtigeren Stütze der Energiewende. Er ermöglicht es, mehrere Transport- und Industriebereiche sowie die Wärmeproduktion zu dekarbonisieren. Darüber hinaus kann er Strom aus erneuerbaren Energien speichern und vom Verbrauch entkoppeln. Alpiq, EW Höfe und Socar Energy Switzerland erstellen in Freienbach SZ die grösste Produktionsanlage der Schweiz für grünen Wasserstoff. Arne Kähler, CEO von EW Höfe: «Wir investieren weiterhin stark in die Zukunft, auch im Umfeld der Gaswirtschaft, und wollen damit neue Massstäbe bezüglich Gesamteffizienz setzen.»


Calandawind – zweite Windkraftanlage am Start
Die Schweiz nutzt die Möglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen auf völlig unzureichende Weise. Allein das Potenzial der Windenergie in der Schweiz schätzt eine aktuelle Studie von Meteotest auf knapp 30 TWh pro Jahr. In Haldenstein bei Chur wird nun das Projekt einer zweiten Windkraftanlage konkret, die bis Anfang 2025 rheinaufwärts in rund 800 Metern Abstand zur bestehenden Windturbine zu stehen kommen soll. Mit dem erwarteten Ertrag von rund 7 Gigawattstunden (GWh) lassen sich gegen 2000 Haushalte mit Strom versorgen. Initiant Josias Gasser: «Die Akzeptanz der Windkraft in der Bevölkerung ist in nur wenigen Jahren deutlich gestiegen.»

Interview mit Gabriela Hug

ETH-Professorin am Power Systems Laboratory im Departement Informationstechnologie und Elektrotechnik sowie Vorsteherin des Energy Science Center (ESC).

Frau Hug, welche Massnahmen zur Schliessung der Winterstromlücke sind zielführend?
Die im Winter ergiebige Photovoltaik in den Alpen, auch auf Dächern und Fassaden, eine ausgebaute Windkraft und diverse Langzeitspeicher sollten sich sinnvoll ergänzen. Es gibt keine einzelne Technologie, die eine Patentlösung für unsere Energieversorgung liefern kann. Stattdessen gilt es, alle tauglichen Energie-Teillösungen intelligent zu kombinieren.

Ist eine vollständige Stromautarkie der Schweiz erstrebenswert?
Übers ganze Jahr betrachtet, sind wir im Strombereich gegenwärtig ja so gut wie autark. Betrachten wir die Primärenergien (die von noch nicht weiterbearbeiteten Energieträgern stammende Energie), ist die Schweiz jedoch zu rund 70 Prozent vom Ausland abhängig. Denn die fossilen Energien und das Uran importieren wir bekanntlich komplett. Wird die Elektrizität Hauptenergieträger der Zukunft, werden wir beim Strom möglicherweise eine grössere Abhängigkeit vom Ausland sehen. Andererseits resultiert aus dem Umstieg auch viel Energieeffizienz. Bauen unsere Nachbarländer die erneuerbaren Energien wirklich so stark aus wie geplant, sollten wir die Kontingente, die uns eventuell im Winter fehlen, auch importieren können.

Welches Potenzial steckt im Energieträger Wasserstoff, um den Strommangel im Winter zu mildern?
Die Problematik beim Wasserstoff liegt in seiner tiefen «Round Trip Efficiency», also in der zurückgewonnenen Energie in Relation zur ursprünglich aufgewendeten Energie. Wir reden da von enormen 60 Prozent Verlust. Sollte die Schweiz künftig auch für den Winter genügend Solarstrom produzieren, liessen sich mit dem Sommerüberschuss tatsächlich gewisse Winterdefizite ausgleichen. Die Frage ist aber, ob es nicht sinnvoller wäre, mit diesem Wasserstoff den Bedarf für Industrie, Gas-und-Dampf-Kraftanlagen oder Schwerlastverkehr direkt zu decken.

Autor*in Andreas Turner / Illustrationen: Kornel Stadler
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