«Wir machen den Wetterbericht für 2050»

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20.10.2025

Reto Knutti ist einer der renommiertesten und lautesten Klimaforscher der Schweiz. Er sieht alarmierende Situationen und will trotzdem jede Chance nutzen.

Herr Knutti, was hat sich in der Klimaforschung in den letzten Jahren verändert?
Während man vor 15 Jahren noch skeptisch auf die Warnungen reagierte, wird die Wissenschaft mittlerweile akzeptiert – zumindest in Fachkreisen.

Werden Sie heute ernst genug genommen?
Es gibt Fortschritte, doch die politischen Massnahmen hinken den wissenschaftlichen Erkenntnissen hinterher. Ob man uns ernster nimmt? Es ist, wie wenn der Arzt sagt, du sollst mehr Sport treiben. Du nimmst es ernst, aber machst du es dann auch?

Wie verhält sich das reale Klima gegenüber den bisherigen Prognosemodellen?
Das Klima verhält sich beängstigend präzise in Bezug auf unsere Modelle. Selbst die Voraussagen aus den 1970er-Jahren treffen erstaunlich gut zu. Dabei treten einige Entwicklungen eher früher auf als bisher erwartet.

«Das Klima verhält sich beängstigend präzise in Bezug auf unsere Modelle. Selbst die Voraussagen aus den 1970er-Jahren treffen erstaunlich gut zu.»

Reto Knutti

In welchem Szenario befinden wir uns – leicht, mittel oder schlimm?
Wir bewegen uns zwischen dem mittleren und dem schlimmen Szenario. Die globale Durchschnittstemperatur ist seit der vorindustriellen Zeit bis 2024 bereits um mehr als 1,3 Grad Celsius gestiegen. Die Nordhalbkugel einschliesslich der Schweiz erwärmt sich schneller, weil es hier grössere Landmassen gibt. In der Schweiz sind es 2,9 Grad. Es ist aber nicht ganz so schlimm, wie wir es vor 15 Jahren erwartet haben, als wir noch mit sehr viel mehr Emissionen durch Kohlekraftwerke rechneten.

2024 gab es in Europa extrem starke Regenfälle. Werden diese häufiger?
Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Pro Grad Erwärmung kann die Luft sieben Prozent mehr Wasser aufnehmen. Das gleiche Gewitter enthält heute 20 Prozent mehr Wasser. Dann schüttet es wie wahnsinnig, und das Wasser kommt unter Umständen meterhoch durchs Dorf.

Brauchen wir einen anderen Umgang mit Naturgefahren?
Bisher hat man nach der Erfahrung der letzten 100 Jahre gebaut. Heute muss man sich überlegen, was in den nächsten 50 oder 100 Jahren passiert, egal ob für ein Haus oder ein Bahngleis. Das ist auch Teil unserer Klimadienstleistung. Wir machen sozusagen den Wetterbericht für 2050.


Der Klimaforscher Reto Knutti

wurde 1973 geboren und ist im Berner Oberland aufgewachsen. Er ist Physiker und promovierte 2002 an der Universität Bern mit einer Arbeit über Studienmodelle zu Wahrscheinlichkeit und Vorhersagbarkeit von künftigen Klimaveränderungen. Kurz darauf kam er an die ETH Zürich und ist dort seit 2007 Professor für Klimaphysik.


Beachten Behörden und Private diesen Wetterbericht?
Sie tun es, aber noch zu wenig konsequent. Wir machen die Klimaszenarien für die Schweiz schon seit vielen Jahren. Aber oft wissen die Entscheider gar nicht, was sie damit anfangen sollen. Wichtig ist da zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem SIA, dem Verband der Ingenieure und Architekten. Er bestimmt die Normen, nach denen gebaut wird. In anderen Bereichen sind es die Förster oder Bäuerinnen, bei den Naturgefahren Kantone und Gemeinden. Und für Energie sind das Bundesamt für Energie oder die Stromversorger verantwortlich.

Wie sind Gemeinden über Risiken informiert?
Es gibt deutliche Unterschiede. Typischerweise ist man dort, wo Unwetter oder Naturgefahren häufiger zuschlagen, besser informiert. Man lernt, wenn es weh tut.

Gibt es Beispiele, dass die richtigen Schlüsse gezogen werden?
Ja, hier ganz in der Nähe sogar. Die Sihl fliesst praktisch durch den Zürcher Hauptbahnhof, in einem Tunnel, der zwischen dem oberirdischen und dem unterirdischen Bahnhof verläuft. Bei Extrem-Regenfällen könnte der unterirdische Bahnhof volllaufen. In der Stadt Zürich gäbe es Schäden von mehreren Milliarden Franken. Es hat noch nie so stark geregnet. Aber einige Male lag die Wassermenge nur knapp unter der kritischen Marke. Darum baut man für 175 Millionen Franken bei Thalwil einen Entlastungsstollen zum Zürichsee.

175 Millionen zur Vermeidung von Milliardenschäden scheint ein guter Deal.
Das ist es. Natürlich kommt der enorme Schaden nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Aber Massnahmen sind viel billiger als die erwartbaren Schäden. Entscheidend ist, möglichst da zu investieren, wo das Schadenspotenzial am höchsten ist.

2024 wurden im Mittelmeer und in der Nordsee ungewöhnlich hohe Wassertemperaturen gemessen. War das vorhersehbar?
Grundsätzlich war mit einer Erwärmung der Meere zu rechnen, aber 2023 und 2024 waren deutlich wärmer, als wir erwartet hatten. Die Gründe sind noch nicht vollständig verstanden.

«Je schneller wir handeln, desto besser können wir langfristige Schäden begrenzen.»

Reto Knutti

Einen überraschenden Effekt hatten offenbar auch neue Abgasvorschriften für die Schifffahrt.
Die grossen Schiffe dürfen nicht mehr mit dreckigem Schweröl fahren oder mussten Abgasreinigungssysteme installieren. Darum gibt es über dem Meer weniger feine Russpartikel. Es kommt mehr Sonneneinstrahlung auf die Erdoberfläche. Durch den Wegfall dieser Luftverschmutzung haben sich die Meere lokal stärker erwärmt als erwartet.

Dann müsste man sofort wieder mit dreckigeren Schiffen fahren?
Nein, auf keinen Fall. Alles ist grundsätzlich gut, was die Luft sauberer macht. Das Beispiel zeigt aber, dass sinnvolle Massnahmen auch unerwünschte Konsequenzen haben können.

Das ginge in Richtung Geo-Engineering – die künstliche Beeinflussung des Klimas. Ist das eine mögliche Lösung?
Geo-Engineering-Massnahmen, wie etwa das künstliche Erzeugen von Wolken, werden diskutiert. Dennoch sind die Risiken enorm. Diese Ansätze könnten kurzfristig das Sonnenlicht reflektieren, aber sie bekämpfen lediglich Symptome, nicht die Ursachen des Klimawandels, nämlich die massiven CO2-Emissionen durch unser fossiles Energiesystem. Zudem lassen sich die Massnahmen nicht geografisch sauber eingrenzen – unsere Entscheide betreffen auch andere. Wenn jemand sie nicht will, kann er sich nicht gegen allfällige negative Folgen wehren.

Könnte ein grosser Vulkanausbruch – vergleichbar mit Tambora in Indonesien oder den Phlegräischen Feldern, dem Supervulkan vor Neapel – einen Abkühlungseffekt erzielen?
Ein massiver Vulkanausbruch würde kurzfristig vielleicht zu 0,1 bis 0,3 Grad Abkühlung führen, und nach drei Jahren wäre nichts mehr messbar. Künstlich herbeigeführte Vulkanausbrüche sind ohnehin undenkbar.

Einige kritisieren, dass es bereits zu spät sei. Teilen Sie diese Ansicht?
Nein, es ist nicht zu spät, aber wir stehen an einem kritischen Wendepunkt. Jedes Zehntelgrad Erwärmung hat weitreichende Auswirkungen. Es ist daher entscheidend, dass wir jetzt entschlossen handeln, um die schlimmsten Folgen abzumildern. Die Zeit drängt, und je schneller wir umfassende Massnahmen ergreifen, desto besser können wir die langfristigen Schäden begrenzen.

Was müsste Ihrer Meinung nach sofort geschehen?
Sofort müssen wir den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen vorantreiben. Gleichzeitig sollten wir unsere Städte und Gemeinden klimafreundlich umgestalten – das schliesst bessere Infrastruktur für den Hochwasserschutz und eine nachhaltige Stadtplanung ein. Es braucht einen raschen, systematischen Wandel, auf globaler wie auch auf lokaler Ebene. Und ganz wichtig: Vieles von dem sind Investitionen in eine lebenswerte Zukunft, die sich langfristig auch wirtschaftlich lohnen.

Autor*in Interview Andreas Schwander, Fotos Thomas Egli
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